Tief über Island

Fliegende Zelte und unpassierbare Flüsse (Island 1999)

 

Tief aus Island. Wenn diese Wettermeldung verkündet wird, dann holen wir den Regenschirm heraus und warten Schicksalsergeben auf ein Dauernass. Und wer sich Island als Urlaubsland auswählt, darf sich nicht über die mitleidigen Blicke seiner Umgebung wundern. Oh Gott, dahin fliegst du; da regnet es doch immer. Außerdem weist Island die höchste Selbstmordrate der Welt auf. Da macht man doch nicht Urlaub!

 

Wer aber doch macht, und sich über all die Vorurteile hinwegsetzt, wird mit einem Naturtrip sondergleichen belohnt. Eine atemberaubende und von Umweltverschmutzung nicht betroffene Landschaft öffnet sich dem Wetterprognoseignoranten Islandtourist. Der ganz Mutige wagt sich sogar tief und quer in und durch das Hochland, die Sprengisandur. Und da es dort keine Hotels oder ähnliche Unterkünfte gibt, hat unser Naturbegeisterter sein eigenes Zelt dabei. Tapfer allen Wetterunbilden sich aussetzend. Tja, und das kann manchmal ganz schön hart werden. 

Auf einer wunderbaren Zelt-Rundreise durch Island glaubte ich nicht mehr an das immer im Hintergrund lauernde Tief. Zwei einhalb Wochen war es bei meist strahlendstem Sonnenschein erst ein Stück die Ringstraße entlang, mit Besichtigung der dort gelegenen Sehenswürdigkeiten gegangen. Zuerst von Reykjavík aus zum historischen Thingvellir, wo auf einem von Spalten und Schluchten durchzogenen Lavafeld 930 das älteste Parlament der Erde gegründet wurde. Hier bot sich für Weitspringer die einzigartige Gelegenheit, von der europäischen auf die amerikanische tektonische Platte zu springen. Aber inzwischen ist das kaum mehr zu schaffen, da die Platten langsam aber stetig immer weiter auseinander driften.

Nach den obligatorischen Fotos ging es weiter über die Hochflächen Nordislands bis hinauf zur Halbinsel Tjörnes nach Husavik. Drei Wale später, Husavik ist der Ausgangspunkt für Walewatchingtouren, vielen bombastischen Wasserfällen, Vulkanen und Myriaden von Mücken bogen wir Tage später links ab auf die Hochlandpiste Sprengisandur. Zwischen den großen Gletschern Hofsjökull und Vatnajökull führte nun der Weg durch lebensfeindliche Sand-, Kies- und Lavawüsten, die aber jeden Naturfreund restlos begeistern. 

 

In Landmannalaugar, einem farbenprächtigen Gebiet aus Liparitbergen, zogen wir die Wanderstiefel an, kletterten Vulkanberge hoch, dann wieder runter, hoch, zogen die Schuhe beim Furten von Bächen aus, und am Abend räkelten und entspannten wir uns in freier Natur in heißen Quellen. 

 

Im spektakulärsten Wildgebiet Islands, der Thórsmörk

Dann ging es weiter in das Tal der Thórsmörk, welches einst wegen seiner Schönheit dem Gott Thor geweiht war. Wörtlich übersetzt heißt Thórsmörk „Thors Wald“ oder „Wald des Donnergottes“ und ist nach wie vor eines der spektakulärsten Wildgebiete Islands. Es liegt zwischen drei Gletschern, und durch zwei tiefe Flüsse und einer Bergkette von der Außenwelt nahezu abgeschnitten, bietet es ein Naturparadies ohnegleichen. Dahin also fuhren wir. Und dort erlebten wir ein echtes Tief aus Island, in Island selbst. Es fühlte sich wie der Weltuntergang an.

Tief über Island zieht auf

Das wussten wir natürlich noch nicht, als wir hier unsere Zelte aufschlugen. Aber schon die Anfahrt zu dem Zeltplatz war spektakulär. Denn, um überhaupt dorthin zu kommen, galt es die gefürchtetste Furt der gesamten Islandfahrt zu wagen. Ohne genaue Einweisung eines Ortskundigen ging nichts. Der Busfahrer fuhr daher, per Sprechfunk mit dem Lotsen verbunden, ganz langsam Meter für Meter durch den Fluß. Dabei spritzte das Wasser teilweise  bis übers Dach. Selbstverständlich war der Bus ein spezieller, geländegängiger Bus, geeignet auch für tiefe Wasserdurchquerungen. Jedenfalls, nach gelungener Durchquerung, schlugen wir hier unsere Zelte auf. Noch war alles einfach traumhaft. Nachdem die Zelte standen, machten wir noch eine Wanderung in der Umgebung und bewunderten die Aussicht und einen traumhaften Regenbogen. Und nach dem Abendessen, und einem kleinen Umtrunk, ging jeder glücklich und zufrieden in sein Zelt. Obwohl, irgendeine Ahnung von kommenden Unheil beschlich uns schon, denn es schob sich langsam eine tiefschwarze Unwetterfront über uns. 

 

Orkan fegt über Zeltplatz

Noch machte ich mir jedoch keine allzu großen Sorgen. Ein wenig unheimlich war es zwar schon mit der schwarzen Front im Nacken, aber es würde schon nichts passieren. Kaum hatte ich mich jedoch entschlossen, mich doch hinzulegen, brach das Inferno über uns herein. Der Sturm wurde in Sekundenschnelle zu einem Orkan, der wild tobend am Zelt zerrte und es jeden Moment zu zerfetzen drohte. Dazu setzte noch ein Sintflutartiger Regen ein. Nun bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Was sollte, konnte ich tun. Ich klammerte mich mit ganzer Kraft an eine Innenstange des Zeltes, um es am Boden zu halten, und betete, dass alles bald vorüberginge. Denn der Orkan rüttelte und zerrte immer stärker und mit voller Kraft an den Befestigungen. Ich sah mich jedenfalls im Geiste schon mit dem Zelt davonfliegen. Denn trotzt meiner enormen Anstrengung es auf dem Boden zu halten, hatte ich das Gefühl, als ob es jeden Moment abheben würde. Ständig hörte ich ein „Pling, pling...“, welches bedeutete, dass sich wieder ein Hering aus dem inzwischen vom Regen völlig aufgeweichten Boden gelöst hatte und somit das Zelt bald in sich zusammen fallen oder weg zu fliegen drohte. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als in schwarzer langer Funktionsunterwäsche, mein "Schlafanzug" im Daunenschlafsack, hinaus in den strömenden Regen zu kriechen und verzweifelt mit dem Wanderschuh, was anders hatte ich nicht zur Verfügung, die Heringe wieder einzuklopfen. Was aber kaum gelang, denn natürlich taugte der Schuh nicht als Hammer und der Boden war inzwischen völlig durchweicht. Kaum wieder im Zelt, pitschnass und fürchterlich frierend, machte es daher erneut „pling, pling...“, und alles fing von vorne an. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich nach draußen lief und das Spiel von vorne begann. Mir kam es jedenfalls wie eine Ewigkeit vor.

Küchenzelt fliegt davon

Auf Hilfe konnte ich nicht hoffen, da ja auch alle anderen mit ihrem eigenen Zelt kämpften. Jedes Zelt hatte die gleichen Probleme. Von überall her hörte ich die verzweifelten und vergeblichen Versuche der anderen Zeltbewohner, die Heringe wieder in den nassen, völlig durchweichten Boden, zu klopfen. Mit genauso wenig Erfolg wie bei mir. Und dann rief jemand hysterisch: "Das Küchenzelt fliegt davon". Wir hatten ein komfortables eigenes Küchenzelt dabei, wo gekocht und manchmal auch gegessen wurde. Es war ein großes Rundzelt, ähnlich einem Tipi Zelt. Und obwohl auch hier die Sturmheringe tief in den Boden versenkt worden waren, lösten sich diese durch das heftige Rütteln des Sturmes und den durchnässten Boden. Da niemand sie erneut einschlug, wir waren ja alle mit unseren eigenen Zelten beschäftigt, löste sich ein Hering nach dem anderen und das Zelt fing an zu flattern. Erste Risse tauchten auf, die immer größer und länger wurden, bis sich schließlich Teile ganz davon abrissen und durch die Luft segelten. Unser Küchenzelt drohte wegzufliegen. Verzweifelt kamen wir alle angerannt um es zu retten. Das muss ausgesehen haben. Ein großes, im Sturm aufgeblähtes Zelt, tanzte wild in der Luft. Aber es tanzte eben nicht nur, sondern die Plane zerriss immer mehr, und etliche Teile flogen weg. Zwar konnten wir vereint noch einen Großteil retten, aber ein intaktes Küchenzelt war das nun wirklich nicht mehr. Aber Gottseidank war es fast das Ende der Reise, und für die zwei restlichen Zeltübernachtungen konnten wir auf das Küchenzelt verzichten. 

 

Aber an Schlaf war natürlich überhaupt nicht mehr zu denken. Jeder rannte zurück zu seinem Zelt und baute das Wenige was noch stand ab. Nun gut, ein geordneter Zeltabbau sah anders aus, aber uns war nur daran gelegen, irgendwie die Zelte abzureißen, damit sie dem Sturm keine weitere Angriffsfläche mehr boten. Das taten wir schon genug. Ein paarmal warf mich der Sturm während dieser ganzen Aktionen richtig zu Boden. Die wild zusammen geschmissenen pitschnassen Zelte schleppten wir in das daneben stehende einzige feste Gebäude, den Sanitärbau. Und hier blieben wir auch. Klatschnaß und entsetzlich frierend verteilten wir uns dort auf die engen Waschräume und Toiletten. Es gibt wahrlich schönere Orte um zu verweilen, aber uns war inzwischen so ziemlich alles egal. Wir wollten nur noch ein festes Dach über dem Kopf. Nach zirka drei Stunden hatte sich der Sturm etwas gelegt, und kurz danach waren unsere naßen Sachen incl. Zelte schon in unserem Bus verladen. Frei nach dem Motto: "Nur weg von hier". 


Warten auf Rettung von außen

Aber der Fluss, den es zu überqueren galt, war so angestiegen, dass selbst unser gut ausgerüsteter Bus nicht ohne Hilfe durchkam. Wir mussten daher, zusammen mit den anderen wenigen Campern, die auch alle nach dieser Schreckensnacht nur noch wegwollten, noch einige Stunden auf ein Spezialauto warten, welches vor uns her fahren und eine passierbare Furt finden sollte. So fuhren wir nach langer Zeit schließlich alle brav und folgsam, und wahnsinnig erleichtert, im Konvoi hinter diesem extra ausgerüsteten und starken Rettungsauto, vergleichbar unseren Speziallastwagen der THW, her. Unsere Gruppe durfte nicht mit unserem Bus mitfahren, sondern wurde in einem anderen Rettungswagen mitgenommen. Es wäre zu gefährlich gewesen, denn niemand konnte genau sagen, ob es der Bus schaffen würde. Gottseidank war das der Fall, und so konnten wir schließlich dieses "Paradies" verlassen. Regen und Sturm waren aber nur Auftakt für die nächsten zwei Tage, wo wir das Island Wetter kennen lernten. Nach knapp drei Wochen strahlendem Sonnenschein erlebten wir nun Regen, der waagerecht vorn vorne kam und überhaupt nicht mehr aufhören wollte. So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt. Unterwegs begegneten wir zwei Radfahrern, die sich unermüdlich, aber sichtbar mit letzten Kräften gegen den Regen stemmten. Da kurz darauf eine Siedlung vor uns auftauchte, verlor sich unser schlechtes Gewissen, dass wir im Trockenen saßen während die beiden einsamen Radler sich Meter um Meter der Straße erkämpften, und machten innerlich nur drei Kreuze, dass wir es diesmal nicht waren, die sich den finsteren Mächten der Natur ausgesetzt fühlten.